Überspringen zu Hauptinhalt
+43 (0)650 73 63 53 8 info@cope.in Impressum & Kontakt

14 Tage hat meine Familie bei COPE im südindischen Bundesstaat Tamil Nadu mitgelebt und Weihnachten und Neujahr 2019/20 auf dem Land unter Palmen verbracht. Mit Jesu, Rani, ihrem Team und mit 280 Kindern aus den umliegenden Dörfern. Hier ein Reisebericht.

Innen ist außen
Meine erste Begegnung mit einem einheimischen Inder verläuft für beide Seiten überraschend: Als Frühaufsteherin, die ich zum Leidwesen meiner Familie bin, hatte ich beschlossen, am ersten Morgen nach unserer Ankunft in Indien einen Spaziergang in die Nachbarschaft des Nesa Karangal zu unternehmen. Fasziniert von den eleganten weißen Vögeln, die ihre Schlafplätze in den Bäumen verlassen hatten und nun auf die Weiden zu den Kühen flogen, war ich einer Frau gefolgt, die auf dem Kopf einen Wasserkrug balancierte. Noch ganz hingerissen von der Anmut ihrer Bewegungen und vom fließenden Rotgelb ihres Saris, war ich von der Straße abgebogen und in das erste Reisfeld meines Lebens geraten. Das Grün der Tropen um mich herum war so überwältigend grün, dass ich nur noch aus dem Augenwinkel mitbekommen habe, dass ich hier offensichtlich jemand bei seiner Morgentoilette gestört hatte. Ein magerer alter Mann, nur spärlich bekleidet, läuft kopfschüttelnd und etwas vor sich hin murmelnd, mit zusammengerafftem Gewand, aus dem Gebüsch am Rande des Reisfelds davon. Natürlich hätte er um diese frühe Stunde niemals mit einer weißhäutigen Frau gerechnet, vor deren seltsamen gelben Haaren die Nachbarskinder im Lauf der kommenden Tage entsetzt davonlaufen, weil sie in ihr einen Geist vermuten. Im Laufe des Tages beobachte ich, dass sich zumindest die Männer in den Dörfern rund um das Nesa Karangal morgens nicht im Haus waschen, sondern vor dem Haus an einer Wasserstelle– wobei „Haus“ vermutlich gar nicht die richtige Bezeichnung für die fensterlosen vier Wände sind, in denen die Familien der benachbarten Dörfer die Nacht verbringen. Ich lerne an diesem Morgen meine erste indische Lektion: Innen ist außen.

 

Die Götter spielen verrückt
„Innen ist außen“ gilt auch für die Religion. Wir sind mitten in den Feiern für die „große Göttin“ eingetroffen: Parvati oder auch Menakshi – die Frau Shivas, eine der mächtigen weiblichen Gottheiten des Hinduismus. Ab vier Uhr morgens dröhnen die Lautsprecher durch die Straßen, vermischen sich mit dem klagenden Geschrei der Pfauen, und lassen uns regelmäßig zu dieser Uhrzeit aus dem Bett fahren. In unseren Zimmern ist keine Unterhaltung mehr möglich – die Göttin beansprucht wochenlange orgiastische Verehrung. In die Kakophonie aus blechernen Gesängen und Pfauengeschrei mischt sich ab Sonnenaufgang das Rufen des Muezzins aus dem benachbarten muslimischen Dorf. Ab 7.00 gesellt sich die Rosenkranzgruppe aus der Kirche nebenan dazu, die tapfer den akustischen Kampf um die religiöse Vormachtstellung aufnimmt und bei der wir aufgrund der Tonhöhe des Singsangs bis zum Schluss rätseln, ob sie aus erwachsenen Frauen oder Kindern besteht. Innige Religiosität und kontemplative Schau ist ausgerechnet im Land des Yoga jedenfalls nicht zu erwarten – und so ergeben wir uns seufzend in unser Schicksal, rammen uns jeden Morgen um 4 Uhr die österreichischen Ohrenstöpsel ins Ohr und fügen uns ins Unvermeidliche. Auch dies eine wichtige Lektion, die wir aus Indien mitgenommen haben: Die Götter – ob Parvati, Jesus oder Ganesha –sind wie sie sind. Basta.

 

Aus allem kann ein Fest werden
„Wie lange seid ihr schon zusammen?“ hatte uns Jesu gefragt, und Erich und ich hatten ihm verraten, dass wir heuer stolze 25 Jahre verheiratet sind. Am nächsten Abend war eine Delegation von Männern aus dem Nachbardorf erschienen, bewaffnet mit Maßband und Schere. Belustigt hatte ich von der Ferne beobachtet, wie sich zahlreiche kleine indische Schneider an meinem Mann zu schaffen gemacht hatten, der unter ihnen hervorragte wie ein Gebirge aus der Ferne und den sie offensichtlich mit einem Hemd versehen wollten, das für hiesige Verhältnisse sicherlich geradezu gigantische Ausmaße hatte.

Am nächsten Tag war die Delegation wieder angerückt und hatte Erich mit einem himmelblauen Hemd und einem weißen Rock versehen. Ich selbst werde nun von den Frauen kurzerhand in einen orangefarbenen Sari gesteckt und meine Haare unter viel Gelächter mit tausend Spangen gebändigt. Wir seien jetzt bereit für die Silberhochzeit, wird uns mitgeteilt. Schon wird ein Gefäß mit wohlriechenden Kräutern vor uns auf- und abbewegt, stehen die Leute aus dem Dorf Spalier, empfangen uns Blumenketten, Gesang und Tanz. Den obligatorischen Kuchen, den man einander bei solchen Gelegenheiten gegenseitig in den Mund steckt, kennen wir schon und so genießen wir, was in Österreich und Deutschland niemand jemals so gut kann wie hier: Feiern. Lachen. Leben. Aus dem Stegreif. Mit nichts außer Tanz und Klatschen und einem Wirbel aus Farben und Musik und Blumen und Düften und Farben und Musik und Blumen und Düften und Farben …

 

In Schönheit sterben
Die staubige Straße ist voll mit weißen Blütenblättern. Niemand sieht mehr den Müll rechts und links am Straßenrand, niemand mehr die halbverhungerten Hunde im Straßengraben, die dort ihren seltsamen Schlaf schlafen – unbewegt, ohne jedes Zucken der Glieder, so dass man sie oft tot glaubt, bis sie langsam aufstehen und dumpf vor sich hinschauen, oft ein Bein hinter sich herziehend, das unter eine Autoriksha geraten ist.

Die rauchenden Müllberge am Straßenrand machen Millionen weißer Blüten Platz. Sie reichen vom Haus des Verstorbenen bis an den Fluss, markieren seinen letzten Weg. Wer sie sieht, weiß: Hier ist jemand verstorben, wird zur letzten Ruhe geleitet. Ihr Duft liegt noch lange in der Luft, seltsam süßlich. So ist Indien: Weiße duftende Blütenblätter begleiten das Leben und auch den Tod. Vielleicht nur einen Moment lang ist der Weg des Verstorbenen schön gewesen. Morgen werden die Blütenblätter fort sein und ihr Duft wird im Gestank des brennenden Plastikmülls untergehen.

Der Tod ist mitten im Leben
Das Grün der Reisfelder ist bezaubernd. Ohne indische Poesie zu kennen, bin ich absolut sicher, dass es dort vorkommen muss. In Kombination mit schlanken Palmen – garantiert … Während ich noch darüber nachdenke, fällt uns beim Vorbeifahren die Menge an Menschen auf, die sich dort vor einem Haus versammelt hat. „The Hindu“, meine tägliche Lieblingslektüre (er weiß sogar über die österreichischen Wahlen und Sebastian Kurz Bescheid!) hat es bereits berichtet: Drei Menschen sind im Reisfeld ums Leben gekommen: Ein kleiner Junge, sein Vater und seine Großmutter. Durch herabhängende Leitungen war das Reisfeld unter Strom. Der kleine Junge wurde sofort vom Schlag getroffen. Der Vater war herbeigerannt, um zu helfen. Aus. Die Großmutter rannte herbei um zu helfen. Aus. Vorbei. Eine ganze Familie. Auch das ist Indien.


Ich beginne zu zählen: Pro Tag komme ich – die Toten im „Hindu“ in der Lokalberichterstattung über Tamil Nadu mitgerechnet – auf durchschnittlich 10-15 Tote am Tag in meiner unmittelbaren Umgebung: Vergewaltigte und getötete Mädchen; Opfer von Autounfällen; Korruptionsfälle mit inoffiziellen Hinrichtungen irgendwo bei Nacht und Nebel, gefolgt von den offiziellen Hinrichtungen des indischen Staates für die gefassten Mörder; an Nierenversagen verstorbene Väter; an Lungenversagen verstorbene Mütter. Dazu kommen die zahnlosen winzigen alten Männer und Frauen, von denen ich nicht sagen kann, ob sie tot sind oder lebendig, weil sie auf einem kleinen Stück Pappe am Straßenrand liegen und sich nicht rühren – neben sich eine kleine Schale in der Hoffnung auf einige Münzen der Pilger, die zu den bunten Tempeln von Trichy oder Madurai wallfahren gehen.

Der Tod ist überall: Die Brunnen sind trocken und in manchen Gegenden sind die Reisfelder nicht grün, sondern braun und umgekippt – eine Katastrophe für die Bauern hier und Folge des Klimawandels, der Indien fest im Griff hat. Am weißen Sandstrand von Mamallapuram unter Palmen liegen Kugelfische, aufgebläht in der Sonne, zum Himmel stinkend. Daneben im Abstand von einem Kilometer vier Meeresschildkröten, erstickt am Plastik. Ich vertrage an diesem Abend keinen Fisch mehr. Erst am nächsten Morgen breitet ein lilarosafarbener Sonnenaufgang seinen barmherzigen Schleier über das Drama in der Bucht von Bengalen, leuchtend bunt wie ein Sari.

Alle Menschen sind gleich
Die „Autoriksha-Partei“ hat gewonnen. Wochenlang haben die Lautsprecherwagen blechern ihre Slogans herumgeplärrt und den dörflichen Analphabeten und Tagelöhnern das Blaue vom Himmel versprochen. Jetzt ist endlich Ruhe eingekehrt und die Gewinner machen Jesu ihre Aufwartung. In dicken Autos kommen sie ins Nesa Karangal gefahren und bekommen Tee serviert. Leuchtend weiß sitzt Jesu auf der Veranda des Nesa Karangal und knüpft an seinem Netzwerk, das den Schulen und Lernzentren von COPE das Überleben sichert. Die Bürgermeister der umliegenden Dörfer sind auch da und so mischen sich Hinduführer unter katholische Geistliche – eine Männergesellschaft mit ihren jahrtausendealten unergründlichen Regeln. „Am Anfang haben die Leute immer gesagt: Was willst du denn diesen Unberührbaren und Tagelöhnern eine Schulbildung geben? Die brauchen das doch nicht, im Gegenteil! Die sollen einmal die Senkgruben ausheben und die Toiletten putzen. Du bringst diese Gesellschaft durcheinander“, erzählt Jesu uns später. „Zwanzig Jahre später haben sie verstanden, dass gerade diese armen Leute nur das allerbeste brauchen: Damit sie genug Selbstbewusstsein haben, um diese Gesellschaft zu verändern.“ Und als ein alter Mann am Tor auftaucht, der mithilfe seines Stocks eher kriecht als geht, erhält er eine Schale Reis, ein Tässchen Milchtee und den Segen von Jesu – genau wie alle anderen auch. Eindrucksvoller habe ich kaum einmal demonstriert bekommen, was die christliche Rede von der Gottebenbildlichkeit eines jeden Menschen meint.

Junge Frauen
„Ist Kristina traurig? Hat sie Probleme?“ Ratlos stehen die jungen Frauen vor mir, beunruhigt ob des seltsamen Verhaltens ihrer Spielgefährtin. Meine 12jährige hat sich auf die Dachterrasse des Nesa zurückgezogen, die Kopfhörer fest auf die Ohren gedrückt und huldigt ihrer Lieblingssängerin, Billie Eilish. Mit 12 Jahren braucht man ab und zu eine Auszeit von Familie und Co. Rosleen und Helen aber sind ratlos: „Warum zieht sie sich zurück? Mag sie uns nicht mehr“? Das indische Verhaltensrepertoire für junge Mädchen sieht Rückzug aus der Gruppe nicht vor. Unsere indischen Freundinnen – „Schwestern“, wie sie sich nennen – waschen, putzen, kochen, nähen. Sie tun das mit großer Anmut und ihre Freundlichkeit ist überwältigend. Selbstverständlich ist auch schon die Rede von dem jungen Mann, der diese Perle eines Tages sozusagen überreicht bekommt. Der Rückzug eines jungen Mädchens aus diesem Kollektiv ist erkennbar ein Affront.

Ich versuche zu erklären ohne zu entschuldigen, erzähle etwas von europäischem Individualismus und Pubertät … Völlig vergebens. Kopfschüttelnd und betrübt stehen sie vor mir und erst ein gemeinsamer Besuch auf der Dachterrasse bei einer alles andere als begeisterten 12jährigen stellt das gute Einvernehmen wieder her. Ihre 14jährige Schwester Katharina muss hoch und heilig versprechen, niemals mehr ein schwarzes T-Shirt zu tragen … Das kommt in Indien offensichtlich kurz vor dem Suizid.

Good-Bye, Kinder!
Trotz des gelegentlichen Zusammenpralls der Kulturen – am Ende unseres Aufenthalts in Nesa weinen alle dicke Tränen. Und wir stellen fest: So schön die neu gewonnene und altvertraute Freiheit wieder ist, so sehr fühlen wir uns wie „aus dem Nest gefallen“. So viel Aufmerksamkeit und Liebe von allen Seiten gibt es bei uns zuhause definitiv nicht! Allein schon deswegen werden wir vermutlich irgendwann wiederkommen. Die täglichen scharfen Mungobohnen zum Frühstück sind im Vergleich dazu Peanuts! Und außerdem muss ja das indische Lernzentrum eröffnet werden, an dem wir jetzt mit bauen. Damit die Schulkinder Ruhe haben vor jüngeren Geschwistern, Hunden, Ziegen und Kühen und was einen in Indien sonst noch so von der Hausübung abhalten kann … Und damit Ihr 280 Kinder uns das nächste Mal wieder mindestens dreimal am Tag „Merry Christmas!“ wünschen könnt! Mit Handschlag! Stolz auf die eigenen Englischkenntnisse und fasziniert von riesigen gelbhaarigen Geistern, die nicht wissen, dass man im Sari nicht rennen kann und die schon bei harmlosen Reis-Gemüse-Gerichten zu weinen beginnen. Immerhin habt Ihr bis zum nächsten Treffen eine Million Selfies zur Erinnerung an uns! Unsere Herzen habt Ihr sowieso.

Auf Wiedersehen!
Katharina und Kristina, Erich und Angelika

An den Anfang scrollen